Nikolaus in der Nikolaikirche
Vergeblich sucht man in der Nikolaikirche einen Nikolaus. Es gibt hier augenscheinlich kein Bild, keine Statue, keine Darstellung des Kirchenpatrons (mehr). Und doch ist Nikolaus in der Kirche zu finden: In der Prädikantenbibliothek kann man Jahrhunderte alte Zeugnisse der Verehrung des Heiligen entdecken.
Sie ist mehr als 800 Jahre alt und so wertvoll, dass sie eigentlich immer unter Verschluss gehalten wird: Die älteste Handschrift in der Predigerbibliothek, das Isnyer Graduale. Der Pergamentband aus dem Isnyer Kloster ist wohl schon kurz nach ihrer Erbauung in die Nikolaikirche gekommen. Genau genommen handelt es sich um ein Plenarmissale. Ein liturgisches Buch mit den Lesungen, Gebeten, Gesängen für die Messe. Weil hier das Graduale den Hauptteil des Bandes ausmacht, kommt dieses Plenarmissale wohl zu seiner Bezeichnung als Isnyer Graduale. Das Graduale ist so etwas wie ein Choralbuch, in dem die verschiedenen Messgesänge aufgeschrieben sind, zusammen mit Neumen, den mittelalterlichen Notenzeichen. Am Beginn des Isnyer Graduale steht ein prächtiges Initial A. Denn „ Ad te levavi animam meam..“, so beginnt lateinisch der 25. Psalm zum 1. Advent.
Vor das Graduale hat der Schreiber, wie das damals oft geschah, noch ein Kalendarium gesetzt. Für jeden Monat gibt es eine Seite, auf der die Heiligenfeste eingetragen sind und später noch Gedenktage Verstorbener und andere Daten notiert wurden.
Und da findet sich nun eigenartiger Weise nicht im Dezember, wo der Festtag am 6. vermerkt ist (auf der linken Buchseite gegenüber dem Beginn des Graduales), sondern mitten auf der März-Seite ein lateinischer Hymnus auf St. Nikolaus. Wahrscheinlich einfach, weil es da genügend Platz gab, hat jemand im 13. Jahrhundert das Lied dort hingeschrieben. Die Sequenz, wie man sie nach ihrer kunstvollen Form und ihrem liturgischen Ort nennt, ist etwa hundert Jahre davor in der Salzburger Gegend entstanden. Und sollte nun natürlich auch in ‚seiner‘ 1288 vollendeten Kirche St. Nicolai in Isny am 6. Dezember erklingen.
Mit dem Latein, in dem die 23 Strophen gereimt sind, kommen nur wirkliche Kenner zurecht. Ein solcher ist Manfred Haaga, dem ich danke, dass er für uns die Übersetzung besorgt hat. Ich habe sie dann noch einigermaßen in Reimform zu bringen versucht, die natürlich überhaupt nicht an das Original heran reicht.
Laude christo debita Dass Christus damit gepriesen sei,
celebremus inclita feiern wir die vielerlei
nycolai merita. Wohltaten des Nicolai.
Fovit illum grecia In Griechenland wuchs er heran,
novit dei gratia durch Gottes Gnade war es zugetan
sanctum ab infancia. dem Heiligen von Kindheit an.
Res miranda nimium Eine wunderbare Angelegenheit
infantuli ieiunium. ist des Kindes große Enthaltsamkeit.
Doctus dei digito Wie Gottes Finger es ihm vorgibt
ieiunat bis in sabbato. es zweimal in der Woche Fasten übt.
Mira sanctimonia Eine wunderbar heiligmäßige Erfahrung
a lactis alimonia. ist, dass von der Milch als Nahrung
Abstinet infantulus, der kleine Säugling sich enthält,
miratur omnis populus. das verwundert alle Welt.
Sacer a cunabulis Heilig von der Wiege an
claruit miraculis wurde er durch seine Wunder dann
seculorum seculis. für alle Zeiten ein berühmter Mann.
Civis urbis patare Bürger war er von Patara, der Stadt,
clarus erat genere, eine Herkunft, die ihn geadelt hat,
clarior in opere. noch mehr aber das, was er tat.
Puer carnem domuit Als Knabe hat er sein Fleisch bezwungen,
adolescens studuit. als Jüngling hat er darum gerungen,
dei verbum addiscere sich anzueignen Gottes Wort
et in opus vertere. und in Taten umzusetzen hinfort.
Verbo fugat demones Dämonen vertreibt er alleweil
infirmos curat homines durch sein Wort, macht Kranke heil.
pascens vulgus famelicum Fürsorglich dem Volk,
das von Hunger verzehrt,
adauxit prece triticum er durch sein Gebet das Korn vermehrt.
Voce lapsa celitus Eine Stimme vom Himmel es macht:
factus est divinitus Durch göttliche Fügung wird geacht‘,
dignus episcopio dass er des Bischofsamts würdig sei,
celi testimonio. und der Himmel ist Zeuge dabei.
Homicidam visitat Dem Mörder hat er einen Besuch gemacht,
tres occisos suscitat drei Hingerichtete wieder
zum Leben gebracht,
tres ereptos vinculis drei, die aus dem Gefängnis befreit,
fert ad domum consulis. bringt er zum Konsul in Sicherheit.
Aurum clam exhibuit Gold schafft heimlich er heran,
sed palam prohibuit damit er ganz offen verhindern kann
voluntatem criminum vom Vater die schlimme Tat,
patris atque virginum. die er samt Töchtern im Sinne hat.
Auri dato pondere Mit eines Klumpen Goldes Gab‘
festinavit tollere wendet er eilends von ihnen ab
malam et nefariam das Gerücht, böse und verrucht,
famam et infamiam. die Schande der Unzucht.
Vocatur in tempestate Angerufen wird er in Sturmes Tosen
fessis nautis quassa rate. von erschöpften, schiffbrüchigen Matrosen.
Dicit assum silet mare „Ich bin da“, sagt er, da schweigt das Meer
dat ad portum remigare. und möglich wird in den Hafen die Rückkehr.
Tandem bene meritum Schließlich gibt dem Himmel er
celo reddit spiritum seinen wohl verdienten Geist wieder her,
fruens deo libere kann nun unbeschränkt genießen Gott
liber carnis onere. frei von aller Leibesnot.
sepulchrum marmoreum Aus seinem Grabmal, das aus Marmor
sacrum stillat oleum quellen Tropfen heiligen Öls hervor,
unde salus languidis dem all die vielen Kranken
venit multis multimodis. die Heilung verschiedenster
Leiden verdanken.
Cecis lumen redditur Blinde können wieder sehen,
claudus inde graditur Lahme dort von dannen gehen.
illuc perge debilis Geh dorthin Gebrechlicher,
et sospes inde resilis. geheilt kommst von dort du wieder her.
Depulso per odium Als Hass den Bischofsnachfolger vertrieben
cessat stillicidium ist das Tropfen des Öls ausgeblieben,
reverso pontifice aber als der Bischof dann wieder kam,
manat hoc mirifice. tropfte es erneut wundersam.
Magne deus adonay Großer Gott Adonai
nos ut nautas nycolai wie die Seeleute des Nikolai
duc de mundi turbine aus den Stürmen der Welt uns leit‘.
In hoc mundo fluctuamus In dieser Welt treiben wir,
de profundo clamitamus aus der Tiefe rufen wir zu dir
nos exaudi domine. o, Herr, uns erhöre allezeit.
In hoc festo tui presulis Am Fest von deinem Schutzpatron
nunc adesto tuis famulis sei deinen Dienern Rettung von
salus in periculis den Gefahren mancherlei
et peccati vinculis. mach sie von Fesseln der Sünde frei.
Ut mortale pellas odium, Damit der tödliche Hass zu Ende ist
salutare stelles oleum gib, dass das heilende Öl fließt,
oleum leticie das wahre Freuden-Öl,
medicina gratie. Medizin der Gnade für die Seel‘.
Inde nos divinitus Damit, Gott gebe es deshalb,
unge sancte spiritus. o Heiliger Geist uns salb‘.
Munda cordis oculum, Des Herzens Auge reinige
salva cunctum populum. das ganze Volk heilige.
Fac nos ipsum te videre, Mach, dass wir auf dich schauen hin
Hoc est totum vite vere. das ist des wahren Lebens ganzer Sinn.
Leider hat der Schreiber dem Lied keine Neumen hinzugefügt. Jedoch findet sich in einer um 1530 entstandenen Handschrift (im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek) ein vierstimmiger Satz des Niederländers Heinrich Isaac. Der Leiter unseres Posaunenchors, Siegfried Leitermann, schaut sich den jetzt mal an. Und so wie ich ihn kenne, ist damit die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass – nach etlichen hundert Jahren – das alte Lied von Sankt Nikolaus bald wieder in ‚seiner‘ Isnyer Nikolaikirche erklingt.
Johannes Ringwald
Die Nikolaus-Sequenz mit den Übersetzungen hier als PDF-Datei (148 kb)